KUNST ÜBER BORD!
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VON JÖRG VAN DER HORST
»Unsere Oper ist ein Dorf, ein sozialer Klangkörper, eine Soziale Plastik. In diesem Dorf ist das Leben die Kunst. Wenn wir also Geld sammeln, um in Afrika ein Operndorf als Kraftzentrum zu bauen, dann sammeln wir das Geld nicht für die Leute dort. Wir sammeln das für uns. Wir sammeln das, damit die Leute vor Ort, denen das Dorf dann gehört und die da autonom leben, in die Schule gehen, Filme drehen, Felder bewirtschaften, Musik machen oder in einer Krankenstation arbeiten, uns lehren, zu den kreativen Wurzeln zurück zu kehren.
Wir klauen den Leuten jetzt endlich ganz offiziell ihr Kreativpotential, indem wir ihnen Geld geben. Afrika hat spirituelle und kulturelle Schätze, die wir schon verspielt haben. Aber wir können ja gemeinsam mit den Kindern in der Dorfschule noch mal anfangen, zu lernen. Das wäre Entwicklungshilfe zur Selbsthilfe. Ich fordere uns alle auf, unsere Vorstellungen von Kunst über Bord zu werfen und in den Reichtum eines solchen Ortes zu investieren. Mit der Schule fangen wir an. Sie soll das Zentrum sein.« — Christoph Schlingensief
In seinen maßgeblichen Arbeiten führte Christoph Schlingensief ein Wechselspiel zwischen Leben und Kunst. Immer in der Gewissheit, dass das eine ohne das andere nicht auszuhalten sei. Seine Projekte auf dem Theater, in der Oper, der U-Bahn oder auf der Straße waren immer auch Versuche, der Kunst das Leben einzubläuen – und andersherum das Leben davon zu überzeugen, dass es in Großteilen inszeniert, dass es selbst eine Kunst ist. Mehr noch: Es waren Selbstversuche, Forschungen am eigenen
Leib, Operationen am offenen Herzen eines gesamten Organismus.
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Dies gilt in besonderer Weise für das Operndorf Afrika, von dem Christoph Schlingensief gesagt hat, es sei seine wichtigste Arbeit. Das Operndorf war das letzte Projekt vor seinem viel zu frühen Tod. Hier und jetzt ist es vor allem das erste Projekt, das seinen Tod überdauert. Das lebt!
»Afrika benötigt ganz bestimmt alles andere als ein Opernhaus à la Bayreuth. Die Missverständlichkeit des Projekttitels ist nicht kalkuliert, um irgendwen davon abzuhalten, einen Beitrag zum Aufbau des Operndorfs zu spenden. Sie ist aber willkommen. Denn darum geht es doch: dass wir unsere Begriffe von Kultur, Kunst, Oper usw. neu aufladen. Wir erweitern also den Opernbegriff und lassen einfach mal alle Einschränkungen beiseite, die wir mit Oper verbinden: korpulente Menschen auf opulenten Bühnen, die um den richtigen Ton kämpfen, und Opernkenner, deren ganzes Glück darin besteht, herauszuhören, wann das mit dem richtigen Ton nicht geklappt hat. Damit haben wir nichts zu tun.«
Das Operndorf ist ein handfestes Projekt, dass durch die Mithilfe und die Leidenschaft vieler Menschen immer mehr Gestalt annimmt und das – so profan ist das Leben – weiterhin Geld benötigt.
Nach der Fertigstellung der Dorfschule gehen dort seit Oktober 2011 zur Zeit 50 Jungen und Mädchen einem regulären Unterricht nach. In einem zweiten Bauabschnitt soll 2012 damit begonnen werden, eine Krankenstation, eine Solaranlage, Künstlerresidenzen, Wohn- und Gästehäuser zu errichten.
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»Was für eine Kunst, wenn uns Kinder und Jugendliche, die einen Unter-richt besuchen können, an Ihrem Wissen teilnehmen lassen! Was für ein Fest, wenn sie ihre eigenen Bilder machen, Instrumente bauen, Geschichten schreiben, Bands gründen. Und was für eine Oper, wenn in der Krankenstation, die wir bauen wollen, ein neugeborenes Kind schreit.«
Das Operndorf Afrika ermöglicht uns die aktive Teilhabe an einem Projekt, das bestenfalls ohne Ausgang fortläuft, indem wir es in die Hände der Kinder und Jugendlichen legen. Wenn wir in ihre Zukunft investieren, dann investieren wir in uns. Erweitern wir ihren Begriff von Leben, dann erweitern wir unseren Begriff dessen, was Kultur sein kann.
Die Soziale Plastik, so Schlingensiefs Überzeugung, ist schon da. Man muss sie nicht erst schaffen. Man muss sie leben.